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Am nächsten Morgen saßen Monsieur d'Aiglemont und
seine Frau ohne ihren Reisegefährten in ihrem Wagen
und fuhren mit großer Eile auf dem Wege dahin, den die
Marquise im Jahre 1814 zurückgelegt hatte, als sie, der
Liebe noch unkundig, ihre Beständigkeit nahezu ver-
wünscht hatte. Tausend vergessene Eindrücke stürmten
auf sie ein. Das Herz hat sein eigenes Gedächtnis. Man-
che Frau, die unfähig ist, sich der wichtigsten Ereignisse
zu entsinnen, wird ihr Leben lang die Erinnerungen be-
wahren, die sich auf ihre Gefühle beziehen. So entsann
sich auch Julie vollkommen der unbedeutendsten Einzel-
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heiten; sie entdeckte mit einem Glücksgefühl die kleins-
ten Vorfälle ihrer ersten Reise wieder, ja erinnerte sich
sogar an einzelne Gedanken, die ihr an der einen oder
anderen Stelle des Weges gekommen waren. Victor, der,
seitdem seine Frau die Jugendfrische und ihre ganze
Schönheit wiedererlangt hatte, sich aufs neue leiden-
schaftlich in sie verliebt hatte, drängte sich wie ein Lieb-
haber an sie. Als er versuchte, sie in seine Arme zu neh-
men, machte sie sich sacht los und verstand es, dieser
harmlosen Liebkosung auszuweichen. Sie schauderte vor
der Berührung mit Victor zurück, dessen Körperwärme
sie infolge ihres nahen Beisammensitzens spürte und
teilte. Sie wollte sich allein auf den Vordersitz setzen,
doch ihr Mann erwies ihr die Aufmerksamkeit und über-
ließ ihr den Fond des Wagens. Sie dankte ihm dafür mit
einem Seufzer, den er mißverstand. Dieser gewiegte Gar-
nisonverführer deutete die Melancholie seiner Frau zu
seinen Gunsten, und so war sie am Abend genötigt, mit
einer Festigkeit zu ihm zu sprechen, die ihm imponierte.
»Mein Freund«, sagte sie zu ihm, »es hat nicht viel ge-
fehlt, daß du mich getötet hättest. Du weißt es. Wäre ich
noch ein junges Mädchen ohne Erfahrung, so könnte ich
aufs neue mein Leben hinopfern. Doch ich bin Mutter,
ich habe eine Tochter zu erziehen, und ich bin ihr eben-
soviel schuldig wie dir. Ertragen wir ein Unglück, das
uns in gleicher Weise trifft. Du bist der weniger zu Be-
klagende. Du hast einen Trost zu finden gewußt, den
meine Pflicht, unsere gemeinsame Ehre und, mehr als
das, die Natur mir verbieten. Sieh«, fügte sie hinzu, »du
hast leichtsinnigerweise in einer Schublade drei Briefe
von Madame de Sérisy vergessen; hier sind sie. Mein
Schweigen beweist dir, daß du in mir eine duldsame Frau
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besitzest, die von dir nicht die Opfer fordert, zu welchen
die Gesetze sie verurteilen. Aber ich habe genug nachge-
dacht, um zu wissen, daß unsere Rollen nicht die nämli-
chen sind und daß die Frau allein zum Unglück auserse-
hen ist. Meine Tugend ruht auf festen, sichern
Grundsätzen. Ich werde untadelhaft leben, aber laß mich
leben!«
Der Marquis war von der Logik verblüfft, die seine Frau,
welche die Liebe scharfsinnig gemacht hatte, entfaltete,
und mußte sich vor der wundervollen Haltung, wie sie
den Frauen in solchen Krisen eigentümlich ist, beugen.
Der instinktive Widerwillen, den Julie gegen alles, was
ihre Liebe und die Forderungen ihres Herzens verletzte,
bekundete, ist eine der schönsten Eigenschaften der Frau
und kommt vielleicht von einer angeborenen Tugend, die
weder die Gesetze noch die Zivilisation zu unterdrücken
vermögen. Wer wird die Frauen also tadeln wollen?
Wenn sie dem ausschließlichen Gefühl, das ihnen nicht
erlaubt, zwei Männern zu gehören, Stillschweigen gebo-
ten haben  sind sie da nicht wie die Priester ohne Glau-
ben? Strenge Gemüter werden den Kompromiß, den Julie
zwischen ihren Pflichten und ihrer Liebe geschlossen
hatte, tadeln, während die leidenschaftlichen ihn ihr als
Verbrechen anrechnen werden. Diese allgemeine Verur-
teilung richtet sich entweder gegen das Unglück, von
dem erwartet wird, daß es einen Ungehorsam gegen das
Gesetz begeht, oder gegen die traurige Unvollkommen-
heit der Einrichtungen, auf denen die europäische Gesell-
schaft beruht.
Zwei Jahre vergingen, während welcher Monsieur und
Madame d'Aiglemont das Leben von Leuten der Gesell-
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schaft führten. Jeder ging seines Weges, und sie trafen
sich öfter in den Salons als zu Hause. In dieser eleganten
Form der Scheidung enden sehr viele Ehen der vorneh-
men Gesellschaft. Eines Abends waren die beiden Gatten
ausnahmsweise zusammen in ihrem Salon. Madame
d'Aiglemont hatte eine Freundin zum Diner bei sich ge-
habt. Der General, der sonst immer außerhalb dinierte,
war zu Hause geblieben.
»Sie werden sehr erfreut sein, Marquise«, sagte Monsieur
d'Aiglemont und stellte die Tasse, aus der er eben seinen
Kaffee getrunken hatte, auf ein Tischchen. Er blickte
Madame de Wimphen mit einer halb boshaften, halb be-
trübten Miene an und fügte hinzu: »Ich begebe mich län-
gere Zeit auf eine Jagd mit dem Oberjägermeister. Sie
werden mindestens acht Tage lang vollkommen Witwe
sein, und das wünschen Sie doch ... Guillaume«, sagte er
zu dem Diener, der die Tassen abtrug, »lassen Sie an-
spannen!« Madame de Wimphen war jene Louisa, der
Madame d'Aiglemont seinerzeit das Zölibat hatte anraten
wollen. Die beiden Frauen warfen sich einen Blick des
Einverständnisses zu, der bewies, daß Julie in ihrer
Freundin eine Vertraute ihrer Leiden gefunden hatte, eine
unschätzbare, liebevolle Freundin, denn Madame de
Wimphen war in ihrer Ehe sehr glücklich; und in der
entgegengesetzten Lage, in der sie sich befanden, war
vielleicht das Glück der einen eine Garantie, daß sie für
das Unglück der andern wahre Teilnahme hegte. In sol-
chem Falle ist die Unähnlichkeit der Geschichte beinahe
immer ein starkes Freundschaftsband.
»Ist jetzt Jagdzeit?« fragte Julie mit einem gleichgültigen
Blick auf ihren Mann. Es war Ende März. »Madame, der
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Oberjägermeister jagt, wann und wo er will. Wir wollen
im königlichen Forst Treibjagden auf Wildschweine ab-
halten.« - »Nehmen Sie sich in acht, daß Ihnen nicht von
ungefähr ein Unfall zustößt...« »Ein Unglück ist immer
von ungefähr«, antwortete er lächelnd. »Der Wagen von
Monsieur ist vorgefahren«, meldete Guillaume.
Der General erhob sich, küßte Madame de Wimphen die
Hand und wandte sich zu Julie: »Wenn ich von einem
Keiler getötet würde ...!« bat er mit unterwürfiger Miene.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Madame de
Wimphen. »Geh doch, rede nicht so!« sagte Madame
d'Aiglemont zu Victor. Dann lächelte sie, wie um Louisa
zu bedeuten: : Du wirst sehen.9 Sie bot ihrem Manne den
Hals, der sich anschickte sie zu küssen; doch die Marqui-
se wandte sich so zur Seite, daß der eheliche Kuß die
Rüsche ihres Kragens streifte. »Sie werden mir vor Gott
bezeugen«, sprach der Marquis zu Madame de Wimphen
gewandt, »daß ich einen Ferman brauchte, um diese leise [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]

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